reframe burg

reframe.burg.
Vom 24.08.2019 bis 29.08.2019.


Target, 2019, installation,Steel, electric motor, electrical components, aluminium, incandescent lamps, stage spotlights Approx. 600 x 700 x 300 cm

Target bildet den materiellen wie auch symbolischen Ausgangspunkt für die komplex angelegte Installation, welche in einer ständigen Selbstbefragung historischer Kontexte und der eigenen ganz physischen Position sowohl inhaltliche als auch räumliche Verknüpfungen entstehen lässt. Fundobjekte und maschinelle Konstruktionen greifen ineinander und erstellen Bezüge zwischen Gestern und Heute, zwischen Außen und Innen.

Wenn auch die erste und einzige Inkraftsetzung von target vor der Burg stattfand, beginnt für die Besucher innen die Installation zunächst im ersten Stock der Burganlage in einer Art Empfangsraum, in dem ein Strauß Wildblumen in einem Lichtkegel inszeniert ist. Links davon führt eine mit Plastik bespannte Tür weiter in die Ausstellung hinein. Beim Durchqueren der Tür aktivieren die Besucher innen eine Lichtschranke und werden selbst zu Impulsgebern der folgenden Bewegung und Aktivierung der Arbeit tube: Ein in die Tür eingebauter Ventilator setzt sich in Bewegung und bläst einen daran angeschlossenen transparenten Folienschlauch auf, der sich von der Tür einen mehrere Meter langen Gang entlang schlängelt und in der nordwestlichen Turmrotunde der Burg endet. Marcel Große lenkt die Besucher innen durch eine räumliche Dramaturgie vom Eingang im ersten Stock bis zum Ausgang durch die Mitte der Turmrotunde wieder hinunter ins Erdgeschoss. Entlang der Arbeit tube verdichten sich die einzelnen Elemente der Installation und leiten hin zu einem immer präsenter klingenden tickenden Sound, der in der Turmrotunde verortet ist. Die erste Objektgruppe entlang des Ganges, untitled gold, öffnet sich links in einem angegliederten Raum. In etwa der Mitte des Ganges findet sich target wieder sowie ein Foto seiner Instandsetzung. Der Gang endet in einer Rotunde, in deren Nischen die Arbeiten Microwave Factory, copy#broken#interface, Casino und π positioniert sind. In der Mitte der Turmrotunde führt eine steinerne Wendeltreppe zurück ins Erdgeschoss, vorbei an den Leftovers der Performance In war there are always enemies der Künstler innen-Gruppe Blind Date Kollaboration.

Zusammengesetzt aus Fundstücken aus der Burg sowie aus zurückgelassenem Material des vorherigen Künstlers Daniel Teiler präsentiert sich untitled gold als verlassene Bühnensituation, deren Material den schalen Geschmack verschwommener Erinnerungsbilder einer vergangenen, nicht wiederholbaren Pracht und Leichtigkeit wachruft.
Die Mitte des Ganges versperrt target, diesmal unbeweglich, eingespannt zwischen Decke und Boden. Die Fotografie an der folgenden Wand verknüpft den Moment des Eintretens der Besucher innen in die Burg mit der möglichen Vorstellung der Beweglichkeit der künstlerischen Maschine.

Am Ende des Ganges erschlafft der Plastikschlauch zum Eingang der Rotunde hin, in der sich sowohl akustisch als auch visuell die Installation in vier einzelnen Objektassemblagen verdichtet. Die drei beim Eintreten in die Rotunde sichtbaren Arbeiten werden gestützt von maschinell verstärkten Reizen, deren Taktung teilweise rhythmisch aufeinander abgestimmt ist: Die Objektgruppe Microwave Factory blinkt im Takt des akustischen Signals der ihr gegenüberliegenden Arbeit π. Daneben bewegt sich ein Staubsaugerroboter bestückt mit einer farbbespritzten Plastikpflanze ruckartig in einem abgesteckten Raum auf und ab. Versperrt wird der Rundgang durch die Rotunde von der Arbeit Casino, in der weitere Materialreste der vorherigen Installation zu einem kosmisch bis höchstgiftig wirkenden Terrarium angeordnet sind. Der Abgang in der Mitte der Turmrotunde, welcher architektonisch noch zwei weitere Stockwerke unter die Erde führen würde, ist im Erdgeschoss abgesperrt und lenkt den Blick auf die Performance-Leftovers der Gruppe Blind Date Collaboration, ein Stuhl und abrasierte schwarze Haare in einem ansonsten vollkommen leeren, runden Raum ohne Tageslicht.

Jede einzelne Arbeit der Installation greift Momente von Erinnerung und Vergegenwärtigung auf, mit denen Marcel Große eine komplexe Narration schafft, in der Historie, Gegenwart und Bemühungen für die Zukunft nahtlos ineinanderfließen. Essenzieller Bestandteil für die ortsspezifisch entwickelten Arbeiten ist der geschichtsträchtig aufgeladene Ort selbst. Erbaut wurde die Wilhelmsburg von 1842 bis 1859 als Teil der Bundesfestung Ulm. Die Festungsanlagen umschlossen Ulm und Neu-Ulm und bildeten nach den napoleonischen Kriegen einen von mehreren zentralen Standorten der Verteidigung der deutschen Staaten nach Westen. Gebaut mit allen Möglichkeiten der Abwehr, wurde sie nie aktiv genutzt – nach ihrer Fertigstellung diente sie lediglich zur Truppenstationierung sowie zeitweise als Unterkunft für Geflüchtete, Heimatlose und zur Unterbringung polnischer Zwangsarbeiter innen. Wie in vielen Städten Europas wurden die Mauern der alten Befestigungsanlagen nach und nach abgetragen oder zu Parkanlagen und Straßen umgebaut. Die Wilhelmsburg selbst existiert noch als geschlossenes Bauwerk, steht jedoch zu großen Teilen leer. Im erweiterten Gelände neben der Wilhelmsburg wird seit 2018 eines der Hauptquartiere der NATO aufgebaut.

Marcel Große nähert sich dem Ort durch die ästhetische Übersetzung seiner Geschichte in Objektgruppen sowie eine dramaturgische Raumgestaltung. In der künstlerischen Umsetzung wird seine vielfältige Arbeitsweise sichtbar – aus einer Verknüpfung von experimentellen Aufbauten, dem Entwurf technischer Apparaturen und dem Einsatz präzise gesetzter Bildelemente. Jede einzelne Arbeit der Installation greift einerseits symbolisch einen Aspekt der Historie des Ortes auf und transformiert diesen andererseits in ein über den Ausgangspunkt hinausweisenden größeren Kontext.

Die Aktivierung der Arbeit copy#broken#interface scheint im ersten Moment, sowie tube, eine Reaktion auf die Anwesenheit von Besucher innen zu sein. Der Staubsaugerroboter fährt an den Beinen der Betrachter innen vorbei und wechselt an jedem Hindernis die Richtung. Unfreiwillig komisch wirkt die aus Materialresten zusammengesetzte, sich immerfort in Bewegung befindende Maschine, die beim zweiten Hinsehen völlig ziellos zwischen am Boden befestigten Absperrungen hin- und herkreist. Die amüsant wirkende Tollpatschigkeit der Maschine verkehrt sich in einen mitfühlenden Moment für die eingeschlossene Kreatur – die Komik der Arbeit scheint in der Sinnlosigkeit und der darin liegenden Tragik zu brechen. Einer Maschine nicht angemessen, erscheint ihr Verhalten fehlbar, eher menschlich und kippt ins Mitleiderregende, wenn die Ziellosigkeit und Determiniertheit ihres Tuns sichtbar wird.

Eine um sich selbst kreisende und festgezurrte Maschine findet sich auch in π wieder. Das durch ein weißes Kissen angedeutete Bett wird durch das Gewicht eines Plattenspielers niedergedrückt, der zusätzlich noch mit Spanngurten fixiert ist. Die Nadel des Plattenspielers läuft über einen Spiegel, auf dem das Sternbild des Großen Wagens eingraviert ist und erzeugt den raumbestimmenden Takt. Zentrum des Spiegels bildet der Polarstern, Symbol der absoluten Orientierung und Sehnsucht zugleich.
In π akkumulieren sich unterschiedliche Aspekte der Geschichte des Ortes wie die Unterbringung polnischer Zwangsarbeiter und Werkzeuge der Verortung des eigenen Seins. Eine doppelte Anspielung auf Geschichte und Gegenwart vereinen sich in der ästhetischen Anlehnung an Funksysteme und ihrem Verweis auf menschliches Tun, sich in Zeit und Raum verankern zu wollen: Während im Zweiten Weltkrieg auf der Wilhelmsburg von Zwangsarbeitern elektronische Röhren für die Luftwaffe produziert wurden, wird heute neben der Burg eines der zwei Hauptquartiere der NATO aufgebaut.

Nichts Komisches ist der Objektgruppe π abzugewinnen, sondern vielmehr ein Verweis auf eine Verschränkung zwischen Mensch, Maschine und Zufall – die Fremdbestimmung menschlichen Schaffens und Seins durch gesellschaftliche, strukturelle und weltpolitische Begebenheiten. Eingefangen ist die Maschine wie zufällig von einem runden Ausschnitt aus einem roten Teppich, dessen kreisrundes Pendant sich gegenüber in Microwave Factory wiederfindet – einer Objektgruppe, deren Lichterkette im Takt des Sternbilds blinkt. Ihre Zusammenstellung wirkt wie eine verlassene Ein-Personen-Insel – Möbelteile, deren Gerippe offengelegt sind, festgeschnürt an einem kosmischen Meteoriten. Wie zufällig finden sich kleinere Meteoritensteine im Terrarium von Casino wieder, dieser kosmisch und ungastlich wirkenden Landschaft, die meisterhaft die durch den Staffellauf übrig gebliebene Materialien der vorherigen Arbeit neu interpretiert. Casino beinhaltet in ihrem Titel zudem eine doppelte Anspielung, einerseits auf die italienische Redewendung „fare casino“– „Unordnung machen“, andererseits auf die beim Militär als „Kasino“ bezeichneten Aufenthaltsräume von Führungspersonal.

Marcel Große zeigt in dieser besonderen Ausstellungskonstellation, welche Vielfältigkeit der Inszenierung und Möglichkeiten er in jedem Material schafft. Wie Jazz-Musiker innen improvisiert er mit Materialien und Räumlichkeiten und öffnet neue Anknüpfungspunkte. Seine Interpretation der Wilhelmsburg wird zu einer begehbaren, immersiven Inszenierung mit automatisierten Darsteller innen. Die Besucher innen werden zu Impulsgeber innen einzelner Bewegungsmomente, das Inkraftsetzen von tube am Eingang kündigt neue Besucher innen bereits in der Rotunde an, die Aktionen und Funktionen der Maschinen vervollständigen sich in den Augen der Betrachter innen. Die gesamte Installation lässt sich als Versuchsaufbau für Möglichkeiten lesen, die nur in kollaborativer Prozession vieler Beteiligter gelingen können. Die einzelnen Objektgruppen entstehen aus einer Auseinandersetzung und Verknüpfung mit der Historie des Ortes, den vorangegangenen Kunstwerken sowie in Zusammenarbeit mit dem Kurator und den Lebewesen vor Ort. Die Konzeption von reframe.burg spielt Marcel Große sozusagen ideal in die Hände, indem seine Objektgruppen und Maschinen, deren Funktion häufig mit Momenten des Zufalls spielen, frei mit der Energie des Ortes improvisieren und deren Möglichkeiten in den Köpfen der Betrachter innen weiter entfalten lässt.

Die Transformation der Geschichte in den von Marcel Große geschaffenen Objektassemblagen, in deren Materialkombinationen sich neue Sinnzusammenhänge erschließen lassen, ermöglicht die Öffnung der in sich geschlossenen Burganlage zu ihrem Außenraum. Die Maschinen und ihre Funktionen können als Stellvertreter innen für die Geschehnisse unserer Geschichte gelesen werden und betten sie ein in aktuelle Diskurse um die Neubewertung historischer Geschichtsschreibung. Abstrahierte Fragmente unserer Gegenwart lassen uns mit spielerischer Leichtigkeit unsere Realität und ihre Reflexion in einem neuen Licht erscheinen. In einer Verknüpfung aus Science Fiction nahen Übersetzungen wissenschaftlicher Bildwelten mit irdischen Orten lässt Marcel Große abstrakte Neuschaffungen von Zukunftsbildern entstehen.

— Elisabeth Würzl

Literatur
Bundesstiftung Baukultur (BSBK)/Reiner Nagel (Hg.): Baukulturbericht Erbe – Bestand –
Zukunft 2018/19, 2. Aufl., Berlin 2019.
Annette Schäfer: „Der Einsatz polnischer und russischer Zwangsarbeiter in Ulm 1939–1945“.
In: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte, 59. Jg./2000, S. 273–299.
Michael Weissenborn: „Um Ulm und um die Nato herum“. In: Stuttgarter Nachrichten
28.03.2019, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.neuer-nato-standort-ulm-um-ulmund-
um-die-nato-herum.1a4955f7-294c-4c41-b480-19d819480dae.html

zu :reframe.burg

Das Programm reframe.burg lässt die Wilhelmsburg durch künstlerische Interventionen zu einem lebenden Organismus werden. Von August bis September sind Künstlerinnen eingeladen mehrere Tage die Burg zu beziehen, sie mit ihren Arbeiten zu verändern und in der Stadt sichtbar zu machen. Wie bei einem Staffellauf interpretieren vier Künstler-innen aufeinander folgend die noch unausgebauten Räume des Flankturms und des angrenzenden Ganges. Im zwei-Wochen-Rhythmus findet eine Eröffnung statt und die anschließende Übergabe an den/die nachfolgende/n Künstler*in.

Parallel werden im Format Stadt als Display Aktionen für den Stadtraum konzipiert, die die Burg in der Stadt Ulm sichtbar machen. Den Abschluss bildet ein Open Space, zu dem wir Ulmer Künstler*innen und Kreative einladen, ihre Interpretation der Burg zu verwirklichen. Diskussionen um visionäre und utopische Umnutzungen der Wilhelmsburg setzen einen Schlusspunkt von reframe.burg.
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In Teilen innerhalb der Anlage wird eine temporäre, ortsspezifische Installation von Marcel Große entstehen. Die sich sowohl mit historischen Bezügen der Räume auseinandersetzt, als auch die zeitlich begrenzte projektbezogene Nutzung thematisiert. Dabei soll der Versuch unternommen werden, einen Raum zu implementieren, auf dessen Grundlage ein Bewusstsein für Austausch zwischen Innen und Außen entsteht.